Wir sitzen vorm Haus, keine zweihundert Meter vom Meer entfernt, ich in einem alten Holzstuhl, Dante auf den ausrangierten roten Kissen der Veranda, auf dem gemähten Gras. Ein paar Meter weiter wächst das Gras hoch und wild, gemischt mit gelben Blumen und Heidekraut, ist es die einzige Trennung zwischen uns und den Nachbarn und dem Schilf, das hinter dem Haus den Übergang ins Weite bildet.
Das Haus ist weiß gestrichen, mit einem Reetdach, das obwohl es letztes Jahr erneuert wurde, schon wieder dunkelgraubraun ist. Die Fensterläden leuchten rot, ebenso die Türe. Eine große Birke wächst im Garten, einige kleine daneben. Die Birken haben meine Eltern gepflanzt, als ich noch klein war, ich erinnere mich vage daran. Überhaupt mag Dante jetzt wohl in dem Alter sein, in dem meine frühesten Erinnerungen an unsere Sommer hier beginnen. Wie ich vor ihm sitze, mit meinem dicken Buch und einem Textmarker, so erinnere ich auch meinen Vater damals.
Je länger ich darüber nachdenke, umso verrückter erscheint es mir, dass das, was früher meine Eltern für mich waren, ich jetzt für Dante bin, in der gleichen Kulisse, das gleiche Bild.
Es ist das erste Mal, dass wir allein wegfahren, und es ist auch das erste Mal seit der Trennung, dass ich nicht das Gefühl habe, komplett lost zu sein.
Nicht zu wissen, was man will, mit diesem neuen, leeren Zuhause. Eine Struktur, die ein- und auszieht, die aber auch durch ihre Abwesenheit bestimmt zu Beginn bestimmt hat. Die Leere, der ich in andere Städte oder in die Nacht entflohen bin. Dorthin passte das Gefühl besser, aber auch nicht so recht.
So langsam pendelt es sich ein. So langsam wandelt sich das Gefühl der Leere in kurze Momente der Sorglosigkeit. Und auf einmal bin ich mehr bei mir, als ich es jemals war.
Ich trage mein Haar im Nacken geknotet, da der Wind es eh komplett zerzaust. Eine langärmelige dunkelblaue Bluse, dazu einen dunklen Rock und einen Wollpullover. Unter dem Rock mein Bikini-Höschen, in der stillen Hoffnung, es würde heute doch noch warm werden.
Ich habe sogar geschafft, Beauvoirs’ „Mandarins von Paris“ auszulesen.
Man muss sich nur angewöhnen, auch beim Kartoffeln kochen zu lesen. An den roten Türrahmen gelehnt in der Kochküche, mit dem Rücken zur immer offenen Haustür, ein Fuß lose im Schuh, das rechte Bein das Standbein. Hinter mir tobt der Wind mit 25h/km, es pfeift und hätte sicherlich etwas Gemütliches, wenn es nicht Mitte August wäre und man sich am liebsten nur die Kleider vom Leib reißen und ins kühle Meer rennen würde.
Hier wohnt der Opa?
Fragt Dante, als wir nachmittags den Friedhof betreten. Wir schließen das Fahrrad unter einem Baum neben einer gusseisernen Pumpe an, ob diese noch funktioniert, weiß ich nicht. Wie erklärt man einem noch nicht ganz Dreijährigen, wo und wie die Toten "leben"?
Es ist ein kleiner, schöner Friedhof, auf einem Hügel gelegen mit einer kleinen Kapelle. Wir gehen einen schmalen Weg entlang, vorbei an einem Schild, das zu dem Grab Gerhart Hauptmanns zeigt.
Vorbei an vielen Grabsteinen, hin zu dem von Dantes Opa, von meinem Papa.
Jung Mutter zu werden hat den Vorteil, dass die Kinder häufig noch viele ihrer Großeltern kennenlernen. Ein wenig besser ihre Herkunft verstehen, ihre Einflüsse und einfach Zeit mit ihnen verbringen können.
Bei meinem Vater war ich nicht schnell genug, er starb als ich 17 war.
Weißt du Dante - der Opa schläft hier jetzt sehr lange, in einem Haus unter der Erde. Er ist gestorben. Du kannst ihm hallo sagen, er wird dich hören aber antworten kann er dir nicht.
Hallo, Opa!
Wir stellen Blumen hin.
Vielleicht habe ich es deshalb mit Dingen, die mir am Herzen liebe so eilig.
Auf einmal läuft Dante weg. Den Hügel herunter, an der Kapelle vorbei. Zum Rad, denke ich, packe unsere Sachen zusammen und laufe hinterher. Auf der Bank vor der Kapelle sitzen drei alte Herren, die Kapelle ist wegen einer Führung geschlossen. Eigentlich wollte ich Dante noch den hellblauen-goldenen Himmel mit den Engeln zeigen. An Kitsch kaum zu übertreffen aber nicht minder beeindruckend.
Wo steckt er? Ich schaue zum Rad, dort steht er nicht. Ich laufe zurück, vorbei an den drei Herren, am Hauptmann Grab, höre ihn Mama schluchzen, sehe ihn auf dem Hügel vor dem Grab seines Opas.
Wo warst du denn, Mama? Ich dachte du wartest hier.
Ich bin dir hinterhergegangen! Sage ich und drücke ihn fest an mich.
Ich dachte du wartest bei Opa.
Es tut mir leid, alles gut, ich bin da.