Ich verlasse Frankfurt bei schönstem Abendhimmel, der sich hinter der Leuchtschrift der Frankfurter Allgemeine im Bogen der Bahnhofsdecke aufspannt. Mein Zug hat eine Verspätung von 70 Minuten - und im Minutentakt breitet sich das Abendrot am Himmel aus und so klingt das Wochenende so friedvoll und inspirierend aus, wie es war.
Ich lehne an einer Reklame am Gleis und lese in der Artikelsammlung der Süddeutschen Zeitung. Es geht um das Kunstkritikerpaar Roberta Smith und Jerry Saltz. Sie sagen: Selbst die schlechteste Kunst erzählt etwas darüber, was gerade in der Luft liegt.
Ich war im Frühjahr schon einmal in Frankfurt gewesen und hatte Gefallen an der Stadt am Main gefunden. Entgegen meiner Vorstellung, komplett in grau zwischen dem Commerzbank Tower und dem Deutsche Bank Hochhaus unterzugehen fand ich mich in einer Stadt wieder, in der man alles zu Fuß erreicht, nie auf grün wartet und in der sich im Bahnhofsviertel wirklich alle Kulturen mischen und der Main eine beruhigende Mitte schafft.
So überzeugte ich meine Freundin Lavinia unser geplantes Städtewochenende in Frankfurt zu verbringen. Wir beschäftigen uns beide beruflich mit Nachhaltigkeit und in vielen, nächtelangen Telefonaten die wir zwischen Hamburg und Köln führen einigten wir uns darauf, dass wir mehr verstehen wollen, wie sich die Gesellschaften sich in den verschiedensten Städten innerhalb und außerhalb von Europa entwickeln.
Wir wollten wissen, was und wie viel in Frankfurt und in der Luft liegt und buchten kurzerhand ein Wochenende in der Stadt am Main. Das Bahnhofsviertel empfängt einen schon mit mehr Eindruck als in so mancher anderen deutschen (Groß-)Stadt. Denn statt es, wie in Köln schnell wieder zu verlassen, in Hamburg sicher zu gehen, nur die richtigen, dafür aber auch schönen, Straßen entlang zur Alster zu nutzen und den Hansaplatz oder den Steindamm zu vermeiden oder in Berlin durch eine Mauer an Bettlern zum Regierungsviertel zu gelangen, aber noch häufiger direkt mit der S-Bahn weiterzufahren, weg vom Bahnhof, bleibt man in Frankfurt im Bahnhofsviertel. Hier ist das 25h Hotel, 40 Meter weit weg von einer Fixer-Stube, wo sich nicht alle dran halten, in und nicht vor der Stube zu konsumieren.
Lavinia ist schon da, als mein Zug um 20.24 mit erheblicher Verspätung endlich in Frankfurt einfährt.
Wir gehen im Hotelrestaurant essen, teilen uns eine Flasche Libanesischen Weißwein und
Wir teilen uns den Tisch mit zwei italienischen Geschäftspartner die Premium-Waffeln auf den deutschen Markt bringen wollen. Es fliegen kleine Waffel-Packungen über den Tisch, wir probieren und sie schmecken wirklich herrlich. Würden wir sie kaufen für je 2 EUR: Lavi sagst, Manner ist auch vegan. Diese sind es nicht. Einer fliegt nächste Woche nach Japan, auch da soll der Markt erobert werden. Wir verabschieden uns in den Hof für eine Zigarette.
Ich werfe meinen Mantel über, ich habe ihn noch nicht lange, Ende des letztes Monats hatte ich ihn bei einem Besuch des Designers Marcel Ostertag im Laden meiner Freundin direkt aus seiner Hand gekauft. Er ist ein warmes grünbraun, mit - und das ist der Hack: einem breiten, orangen Gürtel aus festem Ripp, der irgendwie an Stewardess aber auch an Veuve Cliquot erinnert. Ähnliches ruft mir im Hof des 25h auch ein junger Mann zu, der umgeben einer bunter Clique im Innenhof sitzt und Wein trinkt. Wir setzen uns dazu und fragen, was Frankfurt ausmacht.
Es ist die Durchmischung erzählen sie begeistert, der offene Umgang miteinander, die Tatsache, dass man sich gegenseitig sein lässt. Ein Bänker trinkt hier ohne Probleme neben einem Handwerker, in einer Bar, die eine ehemalige Prostituierte führt. Das ist Frankfurt, wiederholen sie immer wieder, und es könnte ein Mantra sein oder auch die einschließende Zeile eines Rapsongs. Und nicht um es zu beweisen, sondern weil es einfach so ist, verbringen wir den Rest des Abends mit diesem bunten Haufen an faszinierenden Personen, geboren in Italien, Marakkesch und Frankfurt - bis uns nach einer Tour durch das Konsti Viertel und die Bars von Schwester Eva und Haftbefehl und vom Tanzen im Off Yard die Füße schmerzen und wir mit einem pakistanischem Taxifahrer und seinem Chef mit MyTaxi Ride zurück ins Hotel im Bahnhofsviertel fahren. Natürlich nicht ohne noch im Club die Einladung zum Frühstück ins Kaffee Karin angenommen zu haben. Am morgen leihen wir uns Schindelhauer Räder im Hotel, das vermutlich beste Fortbewegungsmittel außer den eigenen Füßen für Frankfurt. Das Kaffee liegt schrägt gegenüber vom Goethes Geburtshaus im Hirschgraben und ist wuselig voll mit Menschen, alt wie jung, die Ellenbogen an Ellenbogen mit Kaffee in der Hand nebeneinander sitzen und erzählen, Zeitung lesen oder Eier im Glas essen.
Wir radeln über die Brücke nach Sachsenhausen, das dauert keine 10 Minuten und vor uns erstreckt sich der Main mit seinen, dem Herbst verfallenden Bäumen am Ufer. Vor dem Schädelmuseum bildet sich eine Schlange für die „Making Van Gogh“ Ausstellung. Uns wurde gestern schon gesagt, dass die Ausstellung und das Museum mit seiner Kunstsammlung ein absolutes Muss wären und wir haben es für morgen eingeplant. Heute radeln wir durch die Sonne über den Flohmarkt am Schaumainkai und ich kaufe fünf wunderschöne Kristallgläser.
Auf dem Rückweg holen wir unsere Koffer aus dem Hotel, denn wir wechseln ins Hotel Nizza, ebenfalls im Bahnhofsviertel, in der Mitte zwischen dem 25h Hotel und dem Main. Inhaberin-geführt und mit der großartigsten Dachterrasse Frankfurts, denn man kommt direkt aus dem Treppenhaus mit dem roten, gelegtem Teppich auf den alten Treppen durch eine schwere Türe hinaus und erblickt alle angrenzenden Wolkenkratzer, die wie sich wie Beschützer um diesen romantischen Ort aufbauen. Auf dem Weg von einem Hotel ins andere laufen wir an einer der vielen Fixer-Stuben vorbei, vor der Tür stehen mehr als zwanzig Männer und Frauen mit Spritzen in der Hand. Wankend, vor sich hin murmelnd sind sie einzig und alleine mit ihrem Konsum beschäftigt. Wir laufen ruhigen Schrittes durch die Gruppe, mir ist mulmig aber ich habe auch das Gefühl, dass es okay ist hier vorbei zu laufen, weil hier sicher nicht von süchtig getrennt wird - sondern alles nebeneinander her existieren kann und soll.
Im Hotel fragen wir am Empfang wo wir zu Abendessen sollten und sie empfiehlt uns das Hamsilos & Schenk, ein türkisches Fischrestaurant, nur eine Straße weiter. Um 19 Uhr sind wir die ersten Gäste dort und wir schauen hungrig durch die gläserner Fischtecke auf Lachs, Seeteufel und Dorade. Den türkischen Wein empfiehlt uns der sehr herzliche Kellner nicht, auf Lavinias Nachfrage welchen dann, sagt er „die Deutschen. Die sind einfach gut.“ Lavi traut ihm nicht, bestellt den türkischen, ich lasse ihn wählen und er bringt mir einen und er bringt mir einen Weißburgunder. Lavi’s zweites Glas wird auch der Weißburgunder sein. Die gegrillte Dorade ist fantastisch. Ebenso Lavinias Seeteufel auf Instanbuler Art.
Satt und glücklich fallen wir ins Bett.
Am morgen frühstücken wir im Hotel, denn es ist das beste Frühstück, dass ich je in einem Hotel hatte: über zwei Tage gezogenes Birchermüsli, selbstgemachte Pasten, Antipasti-Gemüse, kleine Törtchen, frisch gepresster Orangensaft und heißer Kaffee aus einer bunten Mischung aus Porzellan jedes Jahrzehntes machen es fast unmöglich nicht die Sonntagszeitung lesen zu wollen und sich des Lebens zu freuen. Meine Freundin Rebecca, die ebenfalls im Bahnhofsviertel wohnt gesellt sich zum Frühstück dazu. Neben uns frühstück die Staatsanwältin mit der tiefen Stimme.
Wir laufen hinüber zum Main, gehen über die Brücke und stellen uns in die, um die Zeit noch nicht allzu lange Schlage, fürs Städelmuseum. Lars Eidinger spricht die Audio-Kommentare zur Making Van Gogh Ausstellung, die 120 Original-Werke Van Goghs und viele, von ihm inspirierte Werke, aus den verschiedensten Sammlungen Deutschlands zeigt. „Die Geschichte einer Liebe“ heißt der Untertitel der Ausstellung und meint damit die Liebe Deutschlands zu dem Niederländischen Maler. Die erst Postum wirklich erwuchs, möglich gemacht von Van Goghs Bruder, der kurz nach ihm verstarb, aber dessen letzte Handlung eine Ausstellung seines Bruders in der eigenen Wohnung war. Aus dieser Ausstellung wurden dann viele in Deutschland - bis Van Gogh einer der ersten Künstler war, die höchste Marktpreise erreichten, sehr zum Unmut einiger deutscher Künstler.
Dieser Unmut ging soweit, dass es eine Petition mit 123 Künstlern gab’, die sich gegen die wachsenden Preise die Sammler, ob privat und staatlich unterstützt, für ausländische Künstler zahlten, wehrten. 45 Künstler veröffentlichten eine Stellungnahme dagegen. Lars’ Eidingers nüchterner Kommentar im Audio-Off ist, dass man von der Liste der 123, die sich dem Eindringen und dem Erfolg der nichtdeutschen Kunst verwehrten, heute niemanden mehr kennt, anders als auf der Liste, der Künstler und Sammler, die sich offen dafür aussprachen. Darunter auch der Sammler fürs Städel Museum,
Ein Kommentar, der, zu Frankfurt, wie wir es erlebt haben, passt.
Dieser Diskurs fand um die vorletzte Jahrhundertwende statt, aber er bleibt hochaktuell.
Wie die Kunst uns erzählt, was in der Luft liegt.
In Frankfurt liegt die Kunst, sich trotz seiner Verschiedenheit nahe zu sein, in der Luft.